Ähnlich – aber nicht identisch

Ähnlich – aber nicht identisch · Futura und Avant Garde Gothic · Michael Wassenberg

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Der Betreiber einer Praxis für Ästhetische und Plastische Chirurgie stellt sein Leistungsspektrum auf einem Schild dar. Er lässt das Schild produzieren. Später möchte der Chirurg Änderungen an seinem Schild vornehmen, weil sich sein Angebot chirurgischer Leistungen verändert hat. Nun scheut er aber die Kosten für die Anfertigung eines neuen Schildes. Was tun? Er legt selbst Hand an – schließlich ist er Ästhet und Chirurg – und setzt die Änderungen am eigenen PC, druckt diese auf einem edlen Blatt Papier aus. Den Neusatz klebt er auf das Schild. Et voilà! Die Patienten können kommen.

Doch offenbar ist ihm – aus Unwissenheit vermutlich – ein Schönheitsfehler unterlaufen. Er hat eine von dem ursprünglichen Schild abweichende Schrift gewählt. Die Schriften sind sich zwar ähnlich, aber sie sind nicht identisch. Beide basieren auf geometrischen Grundformen, doch die Unterschiede sind nicht zu übersehen, wenn man einmal genau hinschaut.

Im Original sehen wir die Futura, die bekannte und von Paul Renner 1927 gezeichnete Grotesk. Die Korrekturen wurden aus der Avant Garde Gothic gesetzt, einer Schrift, die es eigentlich gar nicht geben sollte. Herb Lubalin hat 1968 das Logo für ein US-Kulturmagazin mit dem Titel Avant Garde aus Großbuchstaben konstruiert. Erst Anfang der 1970er Jahre kamen die Kleinbuchstaben hinzu und man konnte die Avant Garde als Font lizenzieren. Als Satzschrift – da sind sich die meisten Typografen heute einig – ist sie nahezu unbrauchbar.

Ähnlich – aber nicht identisch · Futura und Avant Garde Gothic · Michael Wassenberg

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Schauen wir uns also die Unterschiede einmal genauer an.

Die Futura läuft schmaler als die Avant Garde. Das liegt unter anderem daran, dass ihre runden Formen (a, b, c, d, e, g, o, p und q) nicht wirklich kreisrund sind. Aber auch die anderen Buchstaben sind schmaler.

Einer der wichtigsten Unterschiede ist jedoch, dass bei der Futura die Minuskeln (Kleinbuchstaben) mit Oberlängen (b, d, f, h, k und l) größer sind als die Versalien (Großbuchstaben). Die Avant Garde kennt solche Differenzierungen nicht. Bei ihr ist sogar das Minuskel-t genau so groß wie jeder andere Kleinbuchstabe mit einer Oberlänge und jeder Großbuchstabe.

Die Avant Garde hat eine große x-Höhe. Die Futura betont dazu im Vergleich sichtbar die Ober- als auch die Unterlängen.

Die Strichendungen bei Buchstaben wie e und s verlaufen bei der Futura diagonal. Das bedeutet, dass die Binnenräume offener sind und die Schrift somit auch leicht dynamischer wirkt. Bei der Avant Garde verlaufen diese Strichendungen waagerecht, mit der Konsequenz, dass die Punzen geschlossener wirken.

Und noch drei Petitessen: Das Minuskel-u der Futura kennt keinen Abstrich. Bei der Futura ist die untere s-Kurve deutlich größer als die obere. Die Querbalken des Minuskel-t aus der Futura sind asymmetrisch angeordnet, bei der Avant Garde sehen wir Friedhofskreuze.

Ähnlich – aber nicht identisch · Futura und Avant Garde Gothic · Michael Wassenberg

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Zum Schluss bleibt den Patienten, die mit einer Gesichtsstraffung oder einer Brustvergrößerung liebäugeln, nur zu wünschen, dass der Chirurg mit dem Skalpell professioneller umzugehen weiß als mit diesen verflixten Buchstaben …

PS 1: Am unteren Rand des Bildes sehen wir vermutlich das Logo (transhair), das im Gegensatz zu den bis dahin eingesetzten geometrischen Schriften aus einer sogenannten dynamischen Grotesk besteht*, die zudem noch – einem kruden Wunsch nach Schlankheit folgend – gestaucht wurde. Die ursprünglichen Proportionen der Schrift gehen verloren, weil man sie einseitig in die Höhe gestreckt hat.

PS 2: Das Foto wurde bereits 2014 aufgenommen. Ob es die chirurgische Praxis heute noch an derselben Stelle gibt, ist mir nicht bekannt. Solche typografischen Grausamkeiten sieht man allerdings auch heute noch viel zu häufig. Sie bereiten einem kundigen Menschen physischen Schmerz. Viele Nicht-Typografen sind da wesentlich unempfindlicher. Ich frage mich aber in solchen Fällen immer, ob ich von der typografischen Qualität (des Schildes) auf die beworbene Profession (des Chirurgen) schließen darf/sollte.

* Studenten des Kommunikationsdesigns lernen bereits im ersten Semester Typografie, dass man nie zwei Schriften aus derselben Gruppe miteinander mischen darf – gleichgültig, ob es sich um Grotesk-, Antiqua- oder Slabserif-Schriften handelt. (Ausnahmen bestätigen die Regel.)

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